Hl. Gertrud die Große – Mystikerin im Widerschein göttlicher Liebe
„Als ich mich am Abend zum Gebet niederkniete, dachte ich plötzlich an die Worte des Evangeliums: „Wer mich liebt, der wird an meinem Wort festhalten; mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und bei ihm Wohnung nehmen (Joh 14,23). Da fühlte mein Herz, dass Du, Gott, angekommen und in mir gegenwärtig warst.“
Auf diese Weise stellt die hl. Gertrud (1256-1302) eine ihrer vielen geistlichen Erfahrungen dar! Sie ist eine Ausnahmegestalt abendländischer Mystik. Das aus dem Griechischen kommende Wort ‚Mystik‘ bedeutet so viel wie ‚schließen‘, beispielsweise Mund oder Augen, um so in geheimnisvoller Weise eins zu werden, ja zu verschmelzen mit der unmittelbaren, beglückenden Gegenwart Jesu Christi. Christliche Mystikerinnen leben in ihrer eigenen übernatürlichen Welt geistlicher Erfahrungen, die nicht zu übertragen oder zu verallgemeinern sind.
Die geistlichen Erfahrungen christlicher Mystik orientieren sich an Worten der Heiligen Schrift sowie an der Tradition kirchlicher Überlieferungen. Erfahrungen, die im Widerspruch stehen zu Grundaussagen der Bibel sowie der Glaubenstradition, finden keine Einstufung als echte mystische Erfahrungen. Nur wer im Tiefsten eins geworden ist mit jener Wirklichkeit, von der die Heilige Schrift spricht, wie beim o. a. Abendgebet der hl. Gertrud, besitzt ein geistliches Erkennen und lebt vertieft in der erfüllenden Gegenwart Gottes.
Aus tiefer Ehrfurcht verlieh die Christenheit der hl. Gertrud sogar den Beinamen ‚Die Große‘. Dabei wird die im thüringischen Eisleben Geborene stets in Verbindung gebracht mit jenem Ort eines thüringischen Klosters, in dem sie fast die ganze Zeit ihres Lebens verbrachte: Kloster Helfta. Mit der Wiedervereinigung unseres Landes wurde dieses Kloster, welches mit der Reformation im 16. Jh. aufgelöst wurde, im Jahr 1999 neu mit Leben erfüllt. Seit dieser Zeit gestaltet eine Schwesterngemeinschaft von Zisterzienserinnen das dortige geistliche Leben. Helfta ist inzwischen ein Ortsteil der Lutherstadt Eisleben. Mit einem 2007 eingeweihten ‚Lebendigen Labyrinth‘, in dessen Mitte sich eine aus Ruten geflochtene Räumlichkeit erhebt als Hinweis auf den Schoß Gottes, der Leben, auch geistliches Leben erst ermöglicht, trugen mehrere diözesane Frauenverbände zur Neubelebung dieser sehenswerten Klosteranlage bei.
Berühmtheit erlangt das Kloster jedoch durch die Spiritualität mehrerer religiöser Frauenbewegungen, die Mitte des 13. Jh. ihren Höhepunkt erreicht. Eine große Zahl von Frauen begehrt in dieser Zeit des beginnenden Spätmittelalters eine Aufnahme in ein Frauenkonvent. Im deutschsprachigen Raum steigt die Zahl der Nonnenklöster von 15 auf über 200 explosionsartig an und übertrifft die Zahl der Männerklöster um ein Vielfaches.
Über Gertruds Herkunft bzw. Familie ist nichts bekannt. Als fünfjährige Klosterschülerin kommt sie zu den Zisterzienserinnen nach Helfta, wo sie zeitlebens bleibt. Ihre gründliche humanistische und theologische Ausbildung erhält sie durch die Äbtissin Gertrud von Hackeborn. Diese widmet sich der sehr jungen Gertrud als weise und liebevoll begleitende geistliche Mutter, unterstützt durch die kluge Ordensfrau und Lehrerin Mechthild von Hackeborn.
Diese genannten Frauen stehen gemeinsam in der geistlichen Tradition der Heiligen Schrift sowie der Kirche und werden zu Lehrmeisterinnen weiblicher Spiritualität. Dabei wird Gertrud beschrieben als junge und eifrige Schülerin, an Weisheit und Wissen anderen überlegen, zudem damit beschäftigt, in der Bibel zu lesen, Abschnitte für die Allgemeinheit zu übersetzen, ebenso viele Schriften der Kirchenväter.
Mit 25 Jahren empfängt Gertrud die ersten Christusvisionen, die bis zu ihrem Tod anhalten. Wahrgenommen werden diese als Visionen einer Brautmystik, einer Einswerdung zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen. Anfänglich behält Gertrud diese persönlichen Erfahrungen für sich, später legt sie ihre seherischen Erlebnisse in klarer kultivierter lateinischer Sprache schriftlich nieder.
Viele ihrer mystischen Erlebnisse schließen sich an die Feier der hl. Messe an. Erfüllt vom Begehren zur hl. Eucharistie, in der in den Tiefenschichten ihrer Seele bewusstwird, wen sie in diesem kostbaren Sakrament empfangen darf, teilt sie mit: „Ich kann auf Erden nichts finden, was mich so erfreut wie die Nähe zu meinem HERRN.“ Ohne den Dienst caritativer, geschwisterlicher Nähe zu vernachlässigen, trägt die hl. Gertrud ihre innige Christusverbundenheit hinein in unsere Zeit.
„Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein“, schreibt der noch heute viel zitierte Karl Rahner (1904-84). Authentisch gelebter Glaube, so die Vorstellung des großen Theologen, will zu einer tiefgreifenden persönlichen Lebensentscheidung werden und hinführen zu einer neuen geistlichen Verinnerlichung der Gegenwart Jesu Christi.
Damit geht einher eine neue Leidenschaft, ein inneres Feuer, welches die Welt, ja das eigene Leben in einem neuen Licht erscheinen lässt. Von diesen geheimnisvollen Erfahrungen erzählt die Mystikerin Gertrud: „Du schmiegtest Dein geliebtes Antlitz, aus dem die Fülle aller Seligkeit strahlt, an mich Unwürdige, und ich fühlte, wie aus Deinen göttlichen Augen unaussprechlich beseligendes Licht in meine Augen drang. Die wunderbare Wirkung dieses Lichtes griff alle meine Glieder, es drang bis ins innerste Mark; es schien mir Fleisch und Bein aufzulösen, und ich hatte die Empfindung, als sei mein Körper und meine Seele nichts als Licht, göttliches Licht. Dein göttliches Licht war das Glück meiner Seele.“
Bild: Gertrud-Fenster im Kloster Helfta