Anna Maria van Schurmann (1607-1678): Gelehrteste Frau Europas
Mädchen sind heutzutage in der Schule erfolgreicher als Jungen, stellt die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) fest. Zudem bekommen Mädchen häufiger eine Gymnasialempfehlung und machen häufiger das Abitur. Eine erfreuliche Entwicklung, wenn man bedenkt, dass bis Anfang des 20. Jahrhunderts Mädchen bzw. jungen Frauen der Zugang zur höheren Bildung rechtlich verwehrt wurde.
In vielen Teilen der Welt wird ihnen noch heute mit unterschiedlichsten Argumenten Bildung und Ausbildung untersagt. Entsprechende Nachrichten beispielsweise aus Afghanistan und dem Iran sind nicht nachzuvollziehen und lösen weltweite Empörung aus. In Europa wurde eine ungleiche Behandlung der Geschlechter bereits vor Jahrhunderten in Frage gestellt. Im 17. Jahrhundert wird Anna Maria van Schurmann zu einem nachweisbaren Beispiel dafür, zu welch geistigen und wissenschaftlichen Höhen eine Frau heranwachsen kann.
Natürlich stößt die 1607 in Köln geborene Tochter reformierter Eltern auch in ihrer Zeit auf gesellschaftliche Widerstände. Ihre Eltern jedoch erkennen und fördern ihre außergewöhnlichen Begabungen. So kann Anna Maria, wenn auch unter erschwerten Bedingungen, an weiterführenden Schulen studieren. Sie gehört zu den ersten Studentinnen Europas.
Ihre Kindheit überschatten Religionskriege. Mit acht Jahren zieht sie mit ihrer Familie nach Utrecht. Einige Jahre später ist sie an der dortigen Universität für lange Zeit die erste und einzige Frau, die an Vorlesungen teilnimmt. Hören darf sie die Dozenten jedoch nicht in der Mitte ihrer männlichen Kommilitonen. Damit sie nicht als Teil der Studentenschaft betrachtet wird, hat sie sich in einer mit Gitter versehenen Kammer oberhalb der Aula aufzuhalten. Was uns heute als skurril erscheint, ist für die junge Studentin damals ein beachtlicher Erfolg.
Ihr Vater, ebenfalls humanistisch gebildet, lässt Anna Maria am Hausunterricht ihrer beiden älteren Brüder teilnehmen. Ihm, der von der hohen Begabung seiner Tochter überzeugt ist, verspricht sie auf seinem Sterbelager, sich künftig nicht einem Ehemann bzw. einer Familie zu widmen, sondern ganz und gar dem Streben nach Wissenschaft. In der damaligen Zeit erscheint es undenkbar, als Frau Wissenschaft und Familie miteinander zu vereinbaren. Die strebsame Tochter hält sich an ihre gegebene Zusage und bleibt zeitlebens unverheiratet sowie kinderlos.
Anna Maria van Schurmann (andere Schreibweise: von Schürmann) erlangt den Ruf der gelehrtesten Frau Europas. Sie ist vielfach begabt und universal gebildet. Mit einem weiblichen Genie wie sie umzugehen, bedeutet für ihre männlichen Zeitgenossen eine Herausforderung. Zur Eröffnung der Universität Utrecht 1636 beispielsweise gesteht man ihr wohl zu, in lateinischer Sprache ein Festgedicht zu schreiben. Dieses aber selber vorzutragen, wird ihr verwehrt.
In einer späteren Denkschrift pocht die Studentin auf ein von Gott gegebenes Recht. Sie vermerkt: „Frauen sind, wie im biblischen Schöpfungsbericht beschrieben, Ebenbilder Gottes wie die Männer und haben daher denselben Auftrag, nach der Erkenntnis Gottes zu streben.“ Ergänzend fügt sie hinzu: „Wenn Weisheit tatsächlich eine so große Zierde für das Menschengeschlecht ist, dann kann ich nicht einsehen, warum man einem Mädchen gerade diesen bei Weitem schönsten Schmuck nicht zugestehen sollte.“ Mit ihrer Schrift stieß Anna Maria van Schurmann letztlich eine Frauendebatte an, die sie weit über die Niederlande hinaus bekannt machen wird.
Neben Niederländisch und Deutsch beherrscht sie Sprachen wie Französisch, Englisch, Italienisch, Lateinisch, Griechisch, Hebräisch und Aramäisch. Für die äthiopische Sprache verfasst sie eine spezifische Grammatik. Auf der Höhe der Zeit ist sie in den Bereichen Philosophie, Geographie, Geschichte, Astronomie, Mathematik, Biologie und Medizin. Zudem ist sie talentiert in musischen Fächern wie Musik und Malerei. Die geniale Denkerin korrespondiert mit vielen Gelehrten Europas. Der Naturforscher Adolph Vorstius (1597-1663) schreibt ihr den sowohl denkwürdigen als auch humorvollen Satz: „Ich bitte Sie inständig, liebe Frau, lassen Sie meinem Geschlecht bitte auch noch etwas übrig.“
Auf einem hohen geistigen Niveau zu denken und zu arbeiten, ist für die lebenslang streng gläubige Anna Maria van Schurmann eine gottesfürchtige Aufgabe. Allerdings nimmt ihr Leben in den späteren Jahren eine entscheidende Wende. Sie lernt den streng pietistisch ausgerichteten Prediger Jean de Labadie kennen. Ihr bisheriges Leben einschließlich ihrer von ihren Eltern geerbten Besitztümer lässt sie fortan zurück und folgt im Alter von 62 Jahren den, wie seine Anhänger sich nannten, Labadisten. Sie tritt ein in eine ganz andere Welt, eine Welt strengsten asketischen Lebens.
Mit ihrem Hinweis, eitle Motivation sei falscher Ehrgeiz, widerruft sie ihr früheres Leben mitsamt ihren Schriften. Da man allgemein die Labadisten für Schwärmer hält, sind alle Gelehrten ihrer Zeit über ihren radikalen Sinneswandel total irritiert. Anna Maria van Schurmann jedoch rechtfertigt sich: „Für sie sei das einfache Leben in dieser Gemeinschaft der bessere Weg zu Gott.“ In zahlreichen veröffentlichten religiösen Schriften versucht sie, ihren neuen Weg als ihre persönliche Berufung darzulegen. Über verschiedene Ortswechsel gelangt Anna Maria van Schurmann mit den
Labadisten nach Herford in Westfalen. Während Jean de Labadie während eines Aufenthaltes in Altona (heute: Hamburg-Altona) 1674 verstirbt, führt ihr weiterer Weg zusammen mit ihren religiösen Idealisten ins westfriesische Wieuwerd. In ihrer bedrängten Gruppierung wird sie inzwischen als geistliches Haupt betrachtet. Sie verstirbt dort am 04. Mai 1678.
Im andauernden Ringen um Gleichberechtigung an Schulen und Hochschulen zwischen Jungen und Mädchen bleibt Anna Maria van Schurmann dennoch ein Vorbild als eine äußerst kluge und gebildete Frau sowie als eine der ersten Studentinnen Europas.
Zugunsten der Mädchenbildung haben sich die Zeiten erfreulicherweise verändert. Und dennoch: wenn Mädchen in ihrem Bildungserfolg nicht mehr hinter den Jungen zurückbleiben, so stellt sich das, wie die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) ebenso darlegt, auf dem Arbeitsmarkt mit den unterschiedlichen Verdienstmöglichkeiten zuungunsten der Frauen leider immer noch korrekturbedürftig anders dar.
Bild: Anne Marie de Schurman, Gemälde von Jan Lievens von 1649, National Gallery London.