30. Simone Weil

SIMONE WEIL – Philosophin, Aktivistin und Mystikerin

Als Simone Weil im Jahr 1943 mit gerademal 34 Jahren stirbt, hat sie kaum etwas veröffentlicht. Dennoch schreibt die Nachwelt auf ihr Grab: „Ihre Schriften machten sie zu einer der bedeutendsten modernen Philosophinnen“.

Tatsächlich wird die Französin erst durch ihren Nachlass über die Grenzen ihres Landes berühmt. Man findet eine Reihe von Notizbüchern, die erstmals 1947 als Textsammlung unter dem Titel „Schwerkraft und Gnade“ herausgegeben werden. Darin findet sich einer ihrer bedeutenden Sätze: „Alle natürlichen Bewegungen der Seele sind Gesetzen unterworfen, die denen der stofflichen Schwerkraft entsprechen. Ausnahme macht allein die Gnade.“ Zwischen harter Lebensrealität auf der einen und Leichtigkeit der Gnade auf der anderen Seite erstreckt sich die spannungsreiche Lebenswelt Simone Weils.

Gewiss gehört dazu auch ihre Neigung zu provozieren. Bereits Simones Mutter, so berichteten engste Angehörige, brüstet sich einmal damit, in einem piekfeinen Hotel die ‚Internationale‘ angestimmt zu haben. Nicht selten tut die aus einem jüdischen großbürgerlichen Milieu stammende Familie ohnehin, was ihr bedeutsam erschien. Wie das im jeweiligen Umfeld ankommt, kümmert sie wenig. An der Tochter gehen diese Gepflogenheiten jedenfalls nicht spurlos vorüber.

Als Tochter eines jüdischen Arztes und dessen jüdischer Ehefrau kommt Simone im Februar 1909 in Paris zur Welt. Als Überfliegerin durchläuft sie renommierte Pariser Gymnasien und studiert Philosophie an der Elitehochschule École Normale Supérieure (ENS). Bereits mit 22 Jahren erlangt sie die Promotion und wird Philosophielehrerin am über 400 km südlich von Paris entfernten Mädchengymnasium in Le Puy.

Für die Großstädterin ist die Provinz nicht ihre Welt. Auch reicht ihr ihre Tätigkeit als Lehrerin nicht aus. Mehr und mehr gewinnt sie einen Blick für die Ungerechtigkeiten ihrer Zeit. Ihr Mitempfinden gilt vor allem den arbeitslosen Industrie- und Landarbeiterinnen. Persönlich setzt sie sich für sie ein und teilte mit ihnen sogar ihr eigenes Gehalt. Simone de Beauvoir, bekannte Philosophin und Zeitgenossin schreibt in ihren Memoiren: „Ich beneidete Simone um ein Herz, das imstande war, für den ganzen Erdkreis zu schlagen.“

Simones Herz schlägt tatsächlich immer unruhiger für die Ausgenutzten ihrer Zeit. Sie engagiert sich in der Gewerkschaft und wird zur Aktivistin. Ihre provokanten Ideen bringt sie in ihren Schulunterricht ein, was schließlich zu einer Strafversetzung führt. Als „Jüdin Weil“, als „Rote Jungfrau“ hat sie sich zu rechtfertigen und steht nun auch am Pranger medialer Öffentlichkeit.

Nach heftigen Auseinandersetzungen gibt sie den Schuldienst auf und arbeitet fortan in einer Fabrik. Was sie als Hilfsarbeiterin in einem Elektrobetrieb erlebt, hält sie in ihrem Tagebuch fest: „Müde und entmutigt! Meine Empfindung: über den Sonntag war ich 24 Stunden lang ein freier Mensch und werde mich nun wieder an ein Sklavendasein gewöhnen müssen. Widerwille wegen dieser 56 Centimes Stücklohn im Akkord, der Zwang, sich anzustrengen und sich zu verausgaben mit der gewissen Aussicht auf einen Anschnauzer wegen Langsamkeit oder wegen Ausschuss.“

Simone Weils Aufzeichnungen geben Einblicke in die ausbeuterische Arbeitswelt der dreißiger Jahre. Indem sie sich als Intellektuelle bewusst der Entbehrung und Qual der Arbeitswelt aussetzt, bekundet sie, wie unheilvoll sie die schlimmen Lebensbedingungen der Arbeiterinnen und Arbeiter empfindet. Viele Geisteswissenschaftler beschäftigen sich auf theoretische Weise mit der industriellen Arbeitswelt. In dieses harte Arbeitsmilieu geht Simon Weil jedoch selbst hinein und durchleidet es.

Den stetigen körperlichen und seelischen Belastungen ist ihre zarte, sensible Natur auf Dauer nicht gewachsen. Ihre Mängel zeigen sich während des Spanischen Bürgerkrieges (1936-39). Als Aktivistin will sie beispielsweise auf Seiten der Republikaner kämpfen, als tauglich befunden wird sie aber nur für den Küchendienst.

Während der Besetzung Frankreichs durch die Nationalsozialisten muss Simone Weil mit ihren Eltern als jüdische Familie nach England fliehen. Auch dort kämpft sie leidenschaftlich bis hin zur Erschöpfung an der Seite der Ohnmächtigen und Hilflosen. An Leib und Seele aufgebraucht, stirbt Simone Weil an Tuberkulose in einem Sanatorium im süd-ost-englischen Ashford am 24. August 1943 im Alter von nur 34 Jahren.

Was machen aufreibende Lebenserfahrungen mit der Seele einer jungen Frau? Eher agnostisch wächst Simone in ihrem jüdischen Elternhaus heran. In ihrer bewegten Lebensgeschichte kommt sie dem christlichen Liebesverständnis immer näher. In den geschundenen Kreaturen, im schuldlos erniedrigten Menschen erkennt sie den jeweils Nächsten, dem im Geist des Evangeliums Achtsamkeit, persönliche Nähe und letztlich hilfreiche Zuwendung entgegenzubringen sind.

Die Tiefe christlichen Glaubens in ihrer Wirkmächtigkeit entdeckt Simon Weil offenbar während einer Italienreise. In Rom und in Assisi überkommen sie tiefergehende spirituelle Erlebnisse. Sie besucht hl. Messen und musikalische Andachten. In ihren spirituellen Erfahrungen begegnen sich reflektierendes Nachdenken und unmittelbares Erleben, abstraktes Denken und sinnliches Durchleben. Simon Weil schreibt: „In meinen Überlegungen über die Unlösbarkeit des Gottesproblems hatte ich diese Möglichkeit nicht vorausgesehen: die einer wirklichen Berührung von Person zu Person hienieden, zwischen dem menschlichen Wesen und Gott. Ich hatte wohl unbestimmt von dergleichen reden gehört, aber ich hatte es niemals geglaubt.“

Ob Simon Weil vor ihrem Tod sich hat taufen lassen, wird ein Geheimnis bleiben. Für ihre Nachwelt bleibt Simon Weil dennoch eine echte Mystikerin mit hoher Motivation. Sie lebte das Gebot der Nächstenliebe aus tiefer philosophischer und geistlicher Überzeugung heraus sowie mit bemerkenswerter Radikalität.

Foto: Simone Weil

Vorheriger Beitrag
26. Dorothy Day
Nächster Beitrag
Pilgerweg 2025 über den Ohlsdorfer Friedhof

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte gib eine gültige E-Mail-Adresse ein.
Sie müssen den Bedingungen zustimmen, um fortzufahren.