5. Station – Verwundbar

Aus dem Johannesevangelium (20,24-29):

Thomas, der Didymus genannt wurde, einer der Zwölf, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. Die anderen Jünger sagten zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen.

Er entgegnete ihnen: Wenn ich nicht das Mal der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in das Mal der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht.

Acht Tage darauf waren seine Jünger wieder drinnen versammelt und Thomas war dabei.

Da kam Jesus bei verschlossenen Türen, trat in ihre Mitte und sagte: Friede sei mit euch! Dann sagte er zu Thomas: Streck deinen Finger hierher aus und sieh meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!

Thomas antwortete und sagte zu ihm: Mein Herr und mein Gott! Jesus sagte zu ihm: Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.

Verwundbar

Die schlimmen Kriegsereignisse in der Ukraine, im Nahen und Mittleren Osten sowie in anderen Teilen der Welt führen uns auf schrecklichste Weise die Verwundbarkeit des Menschen vor Augen. Auch dieses riesige Gräberfeld: fast 40 Tsd. Hamburgerinnen und Hamburger. Sie alle sind unschuldige Bombenopfer des 2. Weltkrieges. Welche unvorstellbaren Ängste müssen sie durchgemacht haben?

Krieg ist schlimm, Krieg ist grausam. Wann hören die Kriege in der Welt endlich einmal auf? Ob Menschen in der Lage sind, aus den grausamen Erfahrungen zu lernen? Seit undenklichen Zeiten ist unser Planet Erde ist ein Schauplatz unzähliger erbitterter kriegerischer Auseinandersetzungen.

„Der Krieg ist der Vater aller Dinge“, sagte einmal Heraklit (520-460 v. Chr.). Ob der bekannte Philosoph der Antike recht hatte? Für uns gläubige Christen steht nicht der Krieg am Anfang aller Dinge, sondern genau das Gegenteil: Die Liebe, der Friede! Über allem Geschaffenen lag göttlicher Friede: „Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Und siehe, es war sehr gut“ (Gen 1,31), heißt es in der biblischen Schöpfungsgeschichte.

Erst mit dem Umgang des Baumes der Erkenntnis (Gen 2,9; Gen 3,1-24), Gutes und Böses unterscheiden zu wollen, erfolgte großes Missgeschick. Am Ende stand die Vertreibung des Menschen aus dem Paradies. Erbitterter Kampf, vernichtender Krieg mit allen nur denkbaren Grausamkeiten beeinträchtigen seitdem das Leben der Menschen – bis heute.

Überraschenderweise erweist sich nach alter Überlieferung Jesus selbst als ungestümer Kämpfer, als leidenschaftlicher Streiter. In Jesus nimmt Gott selbst einen außergewöhnlichen Kampf auf. Für wen? Für uns! Für den Menschen! Diesen Kampf lässt sich Gott eine Menge kosten.

Eine tausend Jahre alte Dichtung (Victimae paschali laudes – Wipo v. Burgund, um 1050) stellt dieses erbitterte Ringen drastisch dar, wenn es heißt:

„Tod und Leben stritten im Kampf, wie nie einer war.
Der Fürst des Lebens“ – gemeint ist natürlich Jesus Christus –
„erlag dem Tod; zum Leben erstanden triumphiert er als König.“

Bereits der biblische Stammvater Jakob erhält von Gott den Namen „Israel“ (Gen 35,10), was so viel bedeutet wie: „Gott kämpft“, „Gott streitet“. Unerbittlich führt Christus nun einen Kampf zwischen Tod und Leben. Es ist ein schmerzvoller Kampf mit Blut und Wunden. Blutbeschmiert, verwundet geht Christus aus diesem Kampf siegreich hervor. Er tut es, um dem Leben zu dienen, das Leben zu gewinnen. Christus lässt sich verwunden! Eine ungeheuerliche Feststellung!

Angehörige anderer Religionen betrachten diese Glaubensvorstellung der Christen als Blasphemie, als Gotteslästerung. Und dennoch: wie in die Ewigkeit hineingesprochen gelten die Jahrhunderte vorher niedergeschriebenen Worte des Propheten Jesaja: „Durch seine Wunden sind wir geheilt“ (Jes 53,5).

Der Sohn Gottes kämpft bis hin zur eigenen Verwundung. Das ist beispiellos im Vergleich zu anderen Religionen der Welt! Unfassbar zudem, wie der Sohn Gottes trotz aller auf ihn niederprasselnden Exzesse der Gewalt uneingeschränkt entschlossen gewaltlos reagiert. Sein Beweggrund? Eine restlos bis hin zur Vollendung sich hingebende Liebe: für das Leben – für den Menschen – für uns!

Da kann man ganz schön ins Grübeln geraten, ja sogar zum Zweifler werden, wie der Apostel Thomas. Für seine Skepsis zeigt niemand mehr Verständnis als der Verwundete selbst. Der Auferstandene lässt es zu einer erstaunlichen Begegnung kommen: Christus offenbart dabei seine Verwundbarkeit. Thomas darf diese Verwundbarkeit Gottes greifen, ja begreifen. Diese gipfelt im einzigartigen Bekenntnis des Apostels: „Mein Herr und mein Gott“ (Joh 20,28)!

Ist das Leben also doch ein Kampf? Gewiss, auch wir haben uns zu bewähren in unserem Lebensalltag mit Streitigkeiten zwischen Gut und Böse! Allerdings: diesen unerbittlichen Kampf zwischen den gegensätzlichen Welten Gut und Böse hat Gott endgültig für sich entschieden – endgültig für das Gute, endgültig für die Wahrheit, endgültig für das Leben. Da gibt es kein Zurück mehr.

Beruhigenderweise brauchen wir an dieser Front nicht zu kämpfen. Mit dieser Gewissheit im Herzen, dass Christus für uns alles, aber auch alles getan hat, kann Friede einkehren. Bei jedem von uns.

Bezeichnend ist: eines der ersten Worte, die der Auferstandene an die Seinen richtet, lautet „Schalom!“ „Friede!“ „Friede sei mit euch.“ Dieser Zuspruch des Auferstandenen gilt, er gilt uns allen.

Ein bekanntes Gebet mit der Bitte, selbst zu Werkzeugen seines göttlichen Friedens zu werden, können wir uns gar nicht oft genug zu eigen machen.

Lasset uns beten:

HERR, mache Du mich zu einem Werkzeug Deines Friedens,
dass ich liebe, wo man hasst;
dass ich verzeihe, wo man beleidigt;
dass ich verbinde, wo Streit ist;
dass ich die Wahrheit sage, wo Irrtum ist;
dass ich Glauben bringe, wo Zweifel droht;
dass ich Hoffnung wecke, wo Verzweiflung quält;
dass ich Licht entzünde, wo Finsternis regiert;
dass ich Freude bringe, wo der Kummer wohnt.

HERR, lass mich trachten,
nicht, dass ich getröstet werde, sondern dass ich tröste;
nicht, dass ich verstanden werde, sondern dass ich verstehe;
nicht, dass ich geliebt werde, sondern dass ich liebe.

Denn wer sich hingibt, der empfängt;
wer sich selbst vergisst, der findet;
wer verzeiht, dem wird verziehen;
und wer stirbt, der erwacht zum ewigen Leben. Amen

Foto: Wolfgang Guttmann

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