Judith Leyster (1609-60): Gewürdigt – vergessen – wiederentdeckt
Gehört es zu den Frauenschicksalen, vergessen zu werden? In der Religion gibt es Beispiele genug. Biblische Frauen wie Maria von Magdala oder Junia erhalten erst in jüngster Zeit eine ihnen angemessene Würdigung.
Auch jenseits von Religion sind Frauen zu erwähnen, die Geniales leisteten, aber im Kontext ihres Familienlebens späterhin keine Erwähnung finden. Diesem bisher viel zu wenig beachteten Problemfeld widmete das Hamburger Bucerius Kunst Forum bis Ende Januar 2024 eine dreimonatige Ausstellung. Zu diesen vergessenen Frauen gehört Judith Leyster. Erst vor wenigen Jahren werden ihre künstlerischen Werke wiederentdeckt.
Gut 400 Jahre nach ihrer Geburt, im Jahr 2016, taucht ein vermeintlich verloren gegangenes Bild von ihr wieder auf. Auf einem englischen Landgut prüfen Kunstexperten das „Selbstporträt einer Malerin“. Nach eingehender Begutachtung schreiben Fachleute dieses Gemälde der in Holland Anfang des 17. Jh. geborenen Judith Leyster zu. Während einer Auktion wird es für sensationelle 600 Tsd. Dollar von einem anonymen Anbieter ersteigert.
Judith Leysters Geburtsdatum ist nicht überliefert, wohl aber das ihrer Taufe: 28. Juni 1609 in Haarlem. Judith ist das achte von neun Kindern. Sie ist Tochter einer Familie, die zunächst, wie viele andere Familien auch, in dieser traditionsreichen Handelsstadt dem Leinengewerbe nachgeht. Mit Spekulation auf ein höheres Einkommen wechselt die Familie schließlich über zum Brauereigewerbe.
Judiths Vater benennt seine neu gegründete Brauerei Leidster, was so viel heißt wie Leitstern oder Nordstern – bei uns eher bekannt als Polarstern, wegweisender Orientierungsstern für die Schifffahrt. Aus Leidster wird Leyster. Kreativ, wie Judith nun einmal ist, verbindet sie die Anfangsbuchstaben von Vor- und Nachnamen eng zusammen, versieht J und L mit einem Querstrich und setzt dahinter ein Sternchen. Fertig ist Judith Leysters Monogramm!
Wirtschaftlich verläuft der Branchenwechsel allerdings nicht so, wie erhofft. Am Ende kommt es zum Konkurs. Für die Familie ein Desaster. Damit geht einher, für unsere Vorstellungen undenkbar, der Ausschluss aus der Kirchengemeinde. Als Folge ihres gesellschaftlichen Abstiegs verlässt die Familie die Stadt. Die 15-jährige Judith jedoch bleibt.
Ungewiss ist, bei wem sie bleibt. Aufschluss könnte geben ein Aufsatz des damaligen Pfarrers von Haarlem. Darin lobt er den örtlichen Maler Frans Pietersz de Grebber und dessen Kinder Pieter und Maria für ihre künstlerischen Talente. Ergänzend fügt der Geistliche hinzu, dass es da noch eine weitere gibt, die mit gutem feinem Gespür malt. Dieser Bemerkung fügt der Pfarrer ein Sternchen hinzu sowie den Namen: Judith Leyster.
Sie kann daher als eine Schülerin des Malers Frans Pietersz de Grebber betrachtet werden. Im Ort ist er auch bekannt für seine Stickereien. Denkbar, dass Judiths Vater ihn noch aus seiner Zeit als Textilunternehmer kennt. Künstlerisch ähneln aber Judiths Bilder eher einem anderen Zeitgenossen: Frans Hals, Mitglied der Malergilde von Haarlem. Zusammen mit dessen Bruder Dirck wird Judith studieren und bei Frans Hals zumindest zeitweise assistieren.
Betrachten wir einmal näher das wiederentdeckte Selbstporträt. Selbstbewusst den Malerpinsel haltend, wendet sich Judith Leyster den Betrachtenden zu. Vor dem auf der Staffelei aufgestellten und noch zu vollendendem Bildnis eines „Fröhlichen Geigers“ trägt die Künstlerin bewusst keine Arbeitskleidung. Demonstrativ hat sie vielmehr edle Kleidung angelegt: ein voluminöses Kleid mit üppigem Rüschenkragen und einer eleganten Haube aus feinster durchsichtiger Seide. Die begabte Malerin will nicht wiedergeben, wie adrett sie sich zu kleiden vermag. Vielmehr will sie darstellen, wie talentvoll sie ihr geliebtes Handwerk der Malerei versteht. Die Feinheiten der Textilien mit ihren feingliederigen Fasern und ihrem transparenten Geflecht wollen mit Pinsel und Farbe künstlerisch anspruchsvoll auf die Leinwand gebracht sein. In überzeugender Weise gelingt es Judith Leyster. Jedes noch so feine Detail stellt die 21-Jährige mit höchster Präzision und außergewöhnlicher Perfektion dar.
Für Frauen ist eine Künstlerkarriere im 17. Jh. zwar nicht unmöglich, aber alles andere als selbstverständlich. Karriere zu machen unterliegt bestimmten Bedingungen. Dazu gehört die Zugehörigkeit zur Malerzunft. Als eine der ganz wenigen Frauen erfährt Judith Leyster als persönliche Würdigung für ihre außergewöhnliche Malkunst tatsächlich eine Aufnahme in die Haarlemer Malergilde. Als anerkannte Meisterin kann sie nun selbst Schülerinnen und Schüler ausbilden. Durch das von ihnen, wie damals üblich, zu entrichtende Lehrgeld kann sie nun mit diesem Einkommen ihren eigenen Lebensunterhalt bestreiten.
Die für sie vorteilhaften Lebenswirklichkeiten ändern sich schlagartig, als sie 1636 den Maler Jan Miense Molenaer heiratet. Um im Wettbewerb künstlerischen Lebens mitten drin zu stehen, ziehen beide ins nahe gelegene Amsterdam. Selbstverständlich erhält der Ehegatte eine Mitgliedschaft in der Malergilde. Ehefrau Judith geht jedoch leer aus. Zudem erlischt ihre Mitgliedschaft in der Haarlemer Gilde. Ihr Bekanntheitsgrad beginnt zu sinken. Zugleich verschiebt sich ihr Lebensmittelpunkt: sie wird Mutter und schenkt fünf Kindern das Leben, von denen leider nur zwei überleben.
Als Ehefrau sowie erfahrene Künstlerin arbeitet Judith in der Malerwerkstatt ihres Mannes natürlich mit. Anfangs gelangt die Familie auch zu einem gewissen Wohlstand. Deren Kunsthandel verläuft jedoch später nicht mehr so, wie erhofft. Im Rahmen des wirtschaftlichen Abstiegs nehmen auch Judiths Kräfte mehr und mehr ab. Judith Leyster stirbt am 10. Februar 1660 mit 51 Jahren. Beigesetzt wird sie in Heemstede, südlich von Haarlem.
Nachdem acht Jahre später auch der Ehemann stirbt, scheint das künstlerische Vermächtnis von Judith Leyster endgültig erloschen. Zudem verwechselt man ihre Bilder mit anderen Meistern ihrer Zeit. Selbst der Pariser Louvre kauft Ende des 19. Jh. ein Gemälde („Fröhliche Gesellschaft“) auf in der festen Überzeugung, damit ein Werk des begehrten Malers Frans Hals erstanden zu haben. Erst im Nachhinein stellt sich heraus: dieses Gemälde stammt von niemand anderem als von Judith Leyster. Dieses verworrene Durcheinander wird zum Anstoß für gezielte Ermittlungen, Leben und Werk dieser großen Künstlerin neu zu erforschen.
Spätestens seit der Auktion 2016 gilt Judith Leyster in der Welt der Malerei wieder als eine anerkannte Größe. Inzwischen sind viele ihrer Werke in angesehenen Museen zu bewundern wie in der National Galery of Art in Washington D.C., in der Gemäldegalerie in Berlin, im Gemäldekabinett des Suermondt-Ludwig-Museums in Aachen, im Pariser Louvre, in der Royal Collection des britischen Königshauses in London, im Mauritshuis in Den Haag sowie im Rijksmuseum in Amsterdam.
Zu bewundern waren einige ihrer Gemälde (bis 28. Januar 2024) erfreulicherweise auch im Hamburger Bucerius Kunst Forum neben denen anderer großer Meisterinnen. Zusammen mit ihnen besteht Judith Leyster jeden Vergleich.
Judith Leyster, 1630: Selbstporträt einer Malerin
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