Elsa Brandström (1888-1948): Engel Sibiriens
Die größte Vergeudung unseres Lebens entsteht durch jene Liebe, die nicht gegeben wird“, sagt eine Frau, die erschütterndes Elend erlebt. Menschen aufzurichten, wird zu ihrer Lebensaufgabe. Elsa Brändström (auch: Elsa Brandström) ist von einer Liebe beseelt, die umfassender kaum sein kann und vielen Notleidenden in ihrer Verzweiflung zu einer Verbesserung ihrer Lebenssituation verhilft.
In die weitläufige, abgelegene und unwirtliche Region Sibiriens werden schon seit Jahrhunderten politische Gegner und kriminelle Straftäter verbannt. In dieses dichte Netz von Straf- und Arbeitslagern begeben sich mutige und hilfsbereite Frauen, um allergrößte Not zu lindern und wenigstens ein minimales Gespür von menschlicher Nähe aufkommen zu lassen. Zu ihnen gehört Elsa Brändström.
Die schwedische Diplomatentochter macht eine Ausbildung zur Krankenschwester und geht im Ersten Weltkrieg als Rotkreuzschwester in die Gefangenenlager Russlands. In Westsibirien arbeitet sie in sogenannten Erdbaracken, das sind feuchte, tief in Lehm eingegrabene Höhlen. In diesen dunklen und stickigen Kavernen liegen Kranke und Gesunde eng beisammen. „Viele liegen in den Gängen, so dass man über viele Körper steigen muss“, klagt die Rotkreuzschwester. Ergänzend fügt sie hinzu: „Von den Eiszapfen der Decke tropft das Wasser, so dass die Pritschen der Gefangenen stets nass waren. Das Essen wurde einfach neben den Kranken hingestellt. Wer noch Kraft hatte, aß. Andere hungerten oder verhungerten.“
Das ursprünglich komfortable Leben, in dem Elsa Brändström aufwächst, gibt sie auf. Sie kommt am 26. März 1888 in St. Petersburg zur Welt, wächst aber in Schweden auf. Sie ist Tochter eines Ehepaares, welches zwischen Stockholm und St. Petersburg hin- und herpendelt. Der Vater ist Militärattaché und wird entsandt als schwedischer Offizier mit Diplomatenstatus an die Auslandsvertretung nach St. Petersburg. Die Familie zählt zu den höheren gesellschaftlichen Kreisen. Als junges Mädchen erlebt Elsa glanzvolle Bälle und grandiose Opernabende.
Doch Unterhaltungen dieser Art sind ihr zu oberflächlich. Elsa beunruhigen vielmehr die himmelschreienden Ungerechtigkeiten ihrer Zeit. 1915 begegnet ihr im Nikolai-Hospital von St. Petersburg das nackte Elend. Neben verwundeten russischen Soldaten entdeckt sie in einer separat bewachten Abteilung deutsche und österreichische Kriegsgefangene mit zerrissener Kleidung, in Lumpen gehüllt. In Güterwaggons sollen die schwer verwundeten und kranken Männer, die absolut keine Habseligkeiten mehr besitzen, nach Sibirien abtransportiert werden.
Gemeinsam mit Mitstreiterinnen gewinnt sie das Rote Kreuz dafür, in Deutschland, Österreich und Schweden warme Wäsche, Decken, Filzschuhe sowie Seife, Löffel und vieles mehr zu sammeln, um sie den Kriegsgefangenen zukommen zu lassen. Auf ihrem unausweichlichen Weg in die Lager Sibiriens sollen sie wenigstens mit dem Nötigsten versorgt werden.
Auch Elsa Brändström begibt sich zusammen mit weiteren Helferinnen nach Sibirien. Als offizielle Delegierte des Schwedischen Roten Kreuzes verschafft sich die Diplomatentochter Zugang zu den Erdbaracken, verhandelt mit Lagerkom-mandanten und macht den Behörden zielgerichtete Vorschläge. Ihr gelingt es, Kranke und Verletzte aus den Baracken in leerstehende Kasernen mit trockenen Räumen umzuverlegen.
Unerbittlich stellt sie den russischen Generälen Fragen und weist auf erschreckende Missstände hin. Mit Erfolg! Nicht selten werden bereits am Tag darauf Abortgruben mit Chlorkalk gereinigt, Küchen gesäubert und Korridore gekehrt, um einige Beispiele zu nennen. Zudem werden für Schwerkranke eigene Abteilungen geschaffen. Die Sterberate sinkt erheblich.
So souverän Elsa Brändström Kommandanten und Generälen gegenüber auftritt, so fürsorglich und mitfühlend wendet sie sich den Kranken und Sterbenden zu. „Wenn sie das Zimmer betritt, dann ist es, als wenn jemand eine Kerze entzündet“, erinnert sich ein Häftling. Den Ehrentitel, den die Hilfsbedürftigen ihr verleihen, überhört geflissentlich die Kämpferin für mehr Menschlichkeit: „Engel von Sibirien“. Sie will keine romantische Stimmung erzeugen, sondern einfach für bessere Lebensbedingungen sorgen. Angst vor Ansteckungsgefahr wird sie verbergen. Doch auch sie bleibt von lebensbedrohlicher Ansteckung nicht verschont.
In ihren Begegnungen mit tausenden Kriegsgefangenen entdeckt Elsa Brändström auch viele Traumatisierte. Die Stärkung deren Lebenswillens sowie eine Rückgewinnung ihrer Würde gehört zu ihren weiteren Bemühungen. Mittels Spenden mit deutschsprachiger Literatur richtet sie in den Lagern Büchereien ein. Zudem erwirkt sie für die Gefangenen eine Erlaubnis für Besuche der Gottesdienste in den umliegenden Kirchen.
Als sich 1920 der Völkerbund als neu gegründeter Zusammenschluss von Staaten der Heimholung von Kriegsgefangenen annimmt, kehrt Elsa Brändström nach Stockholm zurück. Ihre Mission setzt sie dennoch fort. Um den aus russischer Gefangenschaft kommenden Heimkehrern zurück ins Leben zu verhelfen, erwirbt sie u.a. in der Uckermark und in Sachsen Grundstücke, auf denen Sanatorien und Kurheime errichtet werden. Einrichtungen dieser Art tragen noch heute ihren Namen.
1929 heiratet sie den Dresdner Pädagogik-Professor Robert Ulich. Auch als Ehefrau kümmert sie sich weiterhin um deutsche Kriegsheimkehrer. Im sächsischen Mittweida errichtet sie ein Waisenheim für Kinder verstorbener Gefangener. Während dieser Zeit, Januar 1932, wird sie selber Mutter und schenkt einer kleinen Brita das Leben.
Auf die blonde, hochgeschätzte Frau werden mittlerweile auch die Nazis aufmerksam. Hitler lädt sie sogar zu einem Besuch ein. Elsa Brändström antwortet mit einem Telegramm. Darin steht nur ein Wort: „Nein“!
Die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten ändert alles. Ihr Ehemann legt seine Professur in Dresden nieder, die Familie siedelt über in die USA. Auch von dort aus sorgen sie sich um die Notleidenden des Krieges. Lebensmittel, Kleidung und andere nützliche Gebrauchsgegenstände werden gesammelt und nach Deutschland verschifft. Mehrfach wird Elsa Brändström für den Friedensnobelpreis nominiert.
Um Emigranten eine erste Arbeitsmöglichkeit zu verschaffen, richtet sie in Cambridge/Massachusetts, wo ihr Mann an der Harvard University eine Gastprofessur erhält, einen Geschenkeladen ein mit einem kleinen Café. Sie selbst übernimmt Tätigkeiten als Küchenhilfe und Bedienung.
Als nach dem Krieg das ganze Ausmaß der Not in Deutschland sichtbar wird, organisiert sie wieder Lebensmittelpakete, diesmal für die im Nachkriegsdeutschland hungernden Familien. Bis zum Ende ihres Lebens kennt sie nur eine Aufgabe: Hilfestellungen geben sowie Zeichen menschlicher Nähe setzen gegenüber allen beklagenswerten Opfern grausamer Kriege.
Wer denkt beim Lesen dieser bemerkenswerten Lebensgeschichte nicht an die schlimmen Bilder in unserer Zeit? Auch heute gibt es Kriegstreiber. Aber auch heute gibt es Frauen und Männer, die inmitten dunkler Auseinandersetzungen ein Licht der Hoffnung entzünden und ermutigende Zeichen aufleuchten lassen echter Mitmenschlichkeit.
An einer Krebserkrankung stirbt Elsa Brändström am 4. März 1948 in Cambrid-ge/Massachusetts. Sie wird 59 Jahre alt.
Als Würdigung ihres Lebenswerkes gibt die Deutsche Bundespost 1951 eine Sondermarke heraus mit einer Porträtzeichnung Elsa Brändströms. Über den „Engel von Sibirien“ gibt es zudem viele bewegende Nachrufe. Ein trefflicher stammt vom einflussreichen ev.-luth. Theologen Paul Tillich (1886-1965): „Elsa Brändströms Leben ist der unwiderlegbare Beweis für die Wahrheit, dass Liebe die vollkommenste Seinsmacht ist, auch in einem Jahrhundert, das zu den dunkelsten, zerstörendsten und grausamsten aller Jahrhunderte seit Beginn der Menschheitsgeschichte gehört.“
Die schwedische Rotkreuzschwester Elsa Brändström um 1929. Foto: picture alliance/Keystone