27. Gertrud Luckner

Gertrud Luckner (1900-1995): Aktivistin für Menschlichkeit

„Juden haben mehr Angst als je zuvor“, erklärt im Juli 2024 die in Wien ansässige Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA). Bereits vor dem verheerenden Angriff der Hamas auf Israel im Oktober 2023 erleben gegenwärtig sehr viele Jüdinnen und Juden einen wachsenden Antisemitismus in Europa. Viele sehen sich gezwungen, ihre jüdische Identität zu verbergen. Diese alarmierende Nachricht muss uns alle aufschrecken.

Sie weckt bittere Erinnerungen an schlimme Zeiten der Shoah. Bereits damals gab es Personen, die der von den Nationalsozialisten heraufbeschworenen Verfolgung und Massenvernichtung von Jüdinnen und Juden nicht tatenlos zusehen wollten. So gingen auch eine Reihe von Frauen in die Geschichte ein als tatkräftige Widerstandskämpferinnen. Eine der Auffälligsten von ihnen: Gertrud Luckner.

Noch zu ihren Lebzeiten erfährt sie bedeutende Ehrungen, vor allem durch den Staat Israel. In der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem wird Gertrud Luckner als ‚Gerechte unter den Völkern‘ gewürdigt. Selbst nach ihrem Tod wählen Leserinnen und Leser der Badischen Zeitung die Freiburgerin zur bedeutendsten Persönlichkeit der Stadt überhaupt. Nicht allein, dass sie unzählige Jüdinnen und Juden vor dem Konzentrationslager rettet. Nein, sie selbst landet im KZ und wird das erschütternde Grauen eines Vernichtungslagers bis hin zur bittersten Schmerzgrenze durchleiden.

Als Jane Hartmann kommt sie in Liverpool am 26. September 1900 zur Welt. Ihre Mutter und ihren Vater lernt das Kleinkind nie richtig kennen. Unmittelbar nach der Geburt gelten ihre Eltern als verschollen. Ein in Britannien lebendes deutsches Ehepaar mit Familiennamen Luckner nimmt das Waisenkind zur Pflege auf. Jane wird offenbar evangelisch getauft. 1907 siedelt die Familie aufs europäische Festland über, zunächst nach Berlin, dann 1917 nach Königsberg. Von ihren Pflegeeltern wird Jane schließlich adoptiert und erhält die preußisch-deutsche Staatsbürgerschaft. Seitdem trägt sie den Namen Gertrud Jane Luckner.

In Königsberg studiert die junge Frau Volkswirtschaft. Während dieser Zeit sterben ihre Adoptiveltern. Gertrud bestreitet ihren Lebensunterhalt nun selbst mit Hilfe von Sprachkursen und Aushilfen in verschiedenen Einrichtungen. 1931 kommt sie als Dipl.-Volkswirtin an die Universität Freiburg im Breisgau und erwirbt dort ihren Doktortitel.

Gertrud Luckner erweist sich überzeugte Pazifistin. Eine Zeitlang fühlt sie sich hingezogen zur in England entstandenen religiösen Gemeinschaft der Quäker. Doch parallel dazu gelangt sie ab 1933/34 zum damaligen Friedensbund Deutscher Katholiken (FDK). Diese im Jahr 1919 – also nach den Grauen des 1. Weltkriegs – gegründete Vereinigung setzte sich zum Ziel, das Liebesgebot Christi auch in gesellschaftliche und politische Lebensbereiche hineinzutragen. Dieser Gedanke sagt ihr zu, und sie tritt 1934 offiziell der Katholischen Kirche bei.

Beruflich wird sie tätig beim in Freiburg angesiedelten Deutschen Caritasverband (DCV) und engagiert sich in der Mütterberatung und in der Familienfürsorge. Ihre Hauptsorge gilt jedoch der mehr und mehr bedrohten jüdischen Bevölkerung. Sie wird aktiv, sehr aktiv. Als 1940 die ersten Verschleppungen einsetzen, beschafft sie, um den Verfolgten eine Transportunfähigkeit zu bescheinigen, ärztliche Atteste. Zudem baut sie ein von Hamburg bis Wien reichendes Hilfsnetzwerk auf. Dank ihrer internationalen Kontakte rettet sie vielen Menschen das Leben und hilft unzähligen Deportierten.

Ihr Engagement als Aktivistin für Menschlichkeit ist äußerst risikoreich. Ausgerechnet durch eine Mitarbeiterin des Caritasverbandes wird sie denunziert. Durch eine Geschäftsstelle in Düsseldorf erfährt die Gestapo von einer geplanten Unterbringung eines jüdischen Kindes, dessen Vater deportiert wird und dessen Mutter in ihrem seelischen Schmerz sich das Leben nimmt. Gertruds Aktivitäten werden ab sofort beobachtet. Dennoch setzt sie ihre Hilfe für die Verfolgten unvermindert fort.

Aufgrund weiterer Denunziationen eines V-Mannes der Gestapo innerhalb des Freiburger Caritasverbandes wird Gertrud Luckner am 24. März 1943 verhaftet und wochenlang vernommen. Nach Aufenthalten in verschiedenen Polizeigefängnissen landet sie November 1943 im KZ Ravensbrück. In diesem größten Frauen-KZ hat sie schwere Zwangsarbeit zu verrichten. Nur durch gegenseitige Hilfe mit anderen Leidensgenossinnen kann sie überleben.

Im Frühjahr 1945 zeichnet sich das Ende des NS-Regimes ab. Die Rote Armee kann das KZ Ravensbrück befreien. Zu diesem Zeitpunkt befindet sich Gertrud Luckner zusammen mit anderen Leidensgenossinnen auf einem Todesmarsch, angeordnet von der SS zur Räumung des Lagers. Die restlos aufgebrauchte Strafkolonne wird von der Roten Armee eingeholt. Am 3. Mai 1945 wird Gertrud Luckner zusammen mit den anderen gedemütigten Frauen endgültig befreit.

Die vom fürchterlichen Grauen Gezeichnete kehrt nach Freiburg zurück. Für die 45-Jährige kann nun ein neuer Lebensabschnitt beginnen. Die neue Lebensphase geht sie beherzt an und baut beim Deutschen Caritasverband die Abteilung ‚Verfolgtenfürsorge‘ auf. Zu ihrem Anliegen gehört, dass KZ-Überlebende gesellschaftspolitisch gewürdigt werden und, zumindest als kleine Wiedergutmachung, eine Entschädigung erhalten. Zugleich widmet sich Gertrud Luckner dem jüdisch-christlichen Dialog. 1948 gibt sie den ersten ‚Freiburger Rundbrief‘ heraus, eine Zeitschrift zum besseren gegenseitigen Verstehen unter Juden und Christen.

Sie empfindet es als große Ehre, als sie vom neugegründeten Staat Israel drei Jahre später als erste deutsche Katholikin zu einem Besuch ins Heilige Land eingeladen wird. Das Land der Bibel wird für Gertrud Luckner so zur zweiten Heimat, denn ab diesem Zeitpunkt reist sie jährlich dorthin.

Ehrungen werden ihr auch im eigenen Land zuteil. Aufgrund ihrer reichhaltigen Erfahrungen im christlich-jüdischen Dialog wird sie 1968 in das Ständige Beratergremium für Ökumenische Fragen der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) berufen. Ab 1971 gehört sie ferner dem Gesprächskreis „Christen und Juden“ beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) an.

Auf Dauer machen sich bei Gertrud Luckner jedoch seelisch schmerzhafte Traumata als Folgeschäden der grauenvollen KZ-Zeit bemerkbar. In einem fünf Jahre vor ihrem Tod geführten Gespräch gibt sie zu erkennen: „Das Konzentrationslager war die Hölle. Das wissen wir, die wir das Schlimmste an menschlichem Sadismus und Grausamkeit Tag für Tag erdulden mussten. Meine Nächte sind erneut geplagte Stunden, wenn ich im Wachtraum aufschreie vor Angst vor den Gräueln der SS, die auf mich einschlagen, brüllen, bis ich todmüde nervlich ermatte, diesmal in meinem Bette hier. Und alle sogenannten ‚Spätschäden‘ werden uns bis zum Tod begleiten und körperlich und seelisch so zusetzen, dass wir stets unverstanden überall unter Menschen sein werden.“

Aufgerieben von vielen belastenden Ereignissen stirbt Dr. Gertrud Luckner in ihrem 95. Lebensjahr am 31. August 1995. Bis zuletzt bewahrt sie sich ihre aufopferungsvoll gelebten Ideale. Beigesetzt wird sie auf dem Freiburger Hauptfriedhof. Ihr Grab innerhalb der Grabanlange des Deutschen Caritasverbandes bleibt Ziel vieler Besucherinnen und Besucher.

Auch in heutiger Zeit sind Zeichen der Nähe zwischen Christen und Juden zu setzen, weil wir festzustellen: Christentum und Antisemitismus passen nicht zusammen. Kirsten Fehrs, ev.-luth. Bischöfin im Sprengel Hamburg und Lübeck der Nordkirche, spricht Anfang dieses Jahres, 19. Januar, auf dem Hamburger Jungfernstieg während der vielbesuchten Kundgebung „Hamburg steht auf!“ eindeutige Worte: „Als Kirchen werden und dürfen wir nicht schweigen, heute nicht und morgen auch nicht. Denn christlicher Glaube und völkisches Denken passen nicht zusammen, genauso wenig wie Kreuz und Hakenkreuz!“

Diese klare Bildsprache der Bischöfin kommt an, bleibt hängen und ermutigt. Mit der Widerstandskämpferin Gertrud Luckner als Vorbild haben wir mit unserer heutigen unverzichtbaren Verantwortung als Christinnen und Christen dazu beizutragen, dass Jüdinnen und Juden, ohne ihre Identität zu verbergen, angstfrei leben können.

© MARCELO HERNANDEZ / FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez

Mittig in der vordersten Reihe rechts neben dem Ersten Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg Peter Tschentscher: Bischöfin Kirsten Fehrs

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