Meditation: Barrierefrei

  1. Betrachtung: Barrierefrei

„Herrgott, schaff die Stufen ab!“ Der Ruf eines erschöpften Treppensteigers klingt mir noch immer in den Ohren. Er war ebenso wie ich treppauf unterwegs zu einer Turmbesteigung. Unterwegs verließen ihn die Kräfte und dann sein Seufzer: „Herrgott, schaff die Stufen ab.“

Es könnte ebenso der Verzweiflungsschrei eines Rollstuhlfahrers sein. Auch Nutzerinnen und Nutzer von Rollatoren tun sich bereits mit wenigen Stufen schwer. Gut, dass es neuzeitliche Techniken gibt wie Rolltreppen, die ja nichts anderes sind als rollende Stufen. Aufzug und Lift sind ebenfalls bevorzugte Hilfsmittel, um andere Höhen oder Tiefen barrierefrei zu erreichen

Die Symbolkraft von Stufen einmal zu bedenken, stieg in mir auf beim Neubau der Quickborner St.-Marien-Kirche. Für ein neu zu errichtendes Gotteshaus, Einweihung Mai 2000, wünschte sich die Pfarrgemeinde am Stadtrand Hamburgs einen Eingangsbereich ohne Stufen, also barrierefrei.

Unabhängig einmal davon, dass die Bezeichnung „barrierefrei“ inzwischen geschützt und genau definiert ist, kommt es wesentlich darauf an, ohne Überwindung von Stufen einen Zugang zu einer anderen Etage zu ermöglichen.

Da es überall Höhenunterschiede gibt, kommen wir nie ohne Stufen aus. Architekten haben sich schon immer dieser Herausforderung angenommen und entwarfen sogar fantasievolle Treppenensemble, wie beispielsweise die „Spanische Treppe“ in Rom. Ihren Namen erhielt sie durch ihre unmittelbare Nähe zur Spanischen Gesandtschaft beim Heiligen Stuhl. Die äußerst gelungene Architektur amüsiert sich buchstäblich an Stufen. In ihren unterschiedlichen Höhen werden Treppen zu einem unterhaltsam verspielten Dekor. Die schwingende Anlage mit ihren insgesamt 136 Stufen und mit ihren eingefügten Terrassen lädt obendrein zum Verweilen ein. Kaum ein Romaufenthalt ohne Besuch dieser sehenswerten Barockanlage, mit der trotz zahlreicher Stufen mühelos ein beträchtlicher Höhenunterschied bewältigt und, wer es hinbekommt, diesen gleichsam leichtfüßig überwindet.

In Rom gibt es eine Treppenanlage ganz anderer Art. Ihr Hinaufsteigen verdichtet sich für Gläubige zu einem einzigartigen geistlichen Gipfelerlebnis: die Scala Sancta, genannt die Heilige Stiege. Der Überlieferung nach ist es jene Treppe im früheren Palast des Pilatus in Jerusalem, auf der Jesus zu seiner Verurteilung hinaufzusteigen hatte. Durch Kaiserin Helena (+330), Mutter von Kaiser Konstantin, soll diese Treppenanlage mit ihren immerhin 28 Stufen nach Rom gebracht und unweit der Lateranbasilika aufgestellt worden sein, wo sie noch heute zugänglich ist und von Gläubigen sehr verehrt wird.

Diese Stufen sind ein Ort inständigen Gebetes. Niemand wagt es, diese anmaßend aufrechtgehend hinaufzusteigen. Vielmehr auf Knien rutschen Beterinnen und Beter, belastet in ihrem seelischen Kummer, aber auch in ihrer Zuversicht und Hoffnung, Stufe um Stufe nach oben, um mystisch eins zu werden mit jenem, der als Sohn Gottes Leiden, Schmerzen und Tod für uns auf sich genommen hat. Mühselige und Beladene (vgl. Mt 11,28) suchen ihre Zuflucht auf dieser Stiege und spüren, dass sie nicht allein sind. Sie sind verbunden durch das Gebet sowie durch jene Stufen, die der Schmerzensmann zum Beginn seines Leidensweges selbst einmal gegangen ist.

Geheimnis unseres christlichen Glaubens: Geistliche Erleichterung bewirkt die Einsicht, Sorgen und Leiden gemeinsam mit IHM, mit JESUS, tragen zu können. ER ist wie ich, und ich bin wie ER. Mit IHM tragen Betende die Last des Lebens gemeinsam – auch über viele Stufen hinweg – nach oben.

Hinter allen mühselig zu erklimmenden Stufen des Alltags wartet das Leben. Kein Aufstieg, auch nicht der bitterste, ist vergeblich: „Was kann uns scheiden von der Liebe Christi?“, fragt der Apostel Paulus, „Bedrängnis oder Not oder Verfolgung, Hunger oder Kälte, Gefahr oder Schwert? All das überwinden wir durch den, der uns geliebt hat“ (Röm 8,35ff).

Dennoch: Wo wir barrierefreien Zugang zum Heiligtum verschaffen können, da wollen wir es tun. Barrierefrei eine Kirche betreten zu können und Andacht zu halten, ist mit der Errichtung der neuen Quickborner St.-Marien-Kirche nun Wirklichkeit geworden. Nicht zuletzt für Suchende wird der freie Zugang zum Gotteshaus, welches tagsüber immer geöffnet bleibt, zum gastfreundlichen Zeichen für eine einladende Kirche.

Foto: Katholische Kirche Quickborn

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